„Von der Notwendigkeit einer klitzekleinen Zeitung“

Vor genau 20 Jahren erschien in Basel das letzte schwule Wochenblatt. Diese kleinen Blätter vom ARCADOS Buchladen haben über Jahrzehnte Menschen miteinander verbunden. Anfangs mit Kontaktanzeigen (!), dann aber mehr und mehr über Szeneereignisse, mit Infos und letztlich auch Klatsch. Denn diesen wollten sich viele Leser immer zu Gemüte führen – und ob sie auch darin erwähnt würden. Was der -minu für die BaZ war der Thommen für Schwule.

1987 erschien die 50. Ausgabe des „Abendblattes“. Damals schon 14-täglich (die andern monatlich) und „für Basel – St.Louis-Mulhouse und Freiburg i.Br.“ Dazu erhielt ich eine anonyme Zuschrift: small is beautifull – auch wenn damit keine Weltanschauung begründet wird, ist „die Existenz des Abendblattes“ doch damit zu rechtfertigen.

Schwule Lebensweise, vor allem dann, wenn sie sich nicht in der Szene abspielt, ist auf Information und Kommunikation angewiesen. Der versteckte, zurückhaltende, der einnzelgängerische und vielleicht auch der ältere Schwule müssen wissen, wo was ist, wo sich was wie verändert hat und – traurig aber wahr – wo Enttäuschungen zu erwarten sind oder gar Gefahren drohen.

Gerade deshalb haben viele Bewohner, vorwiegend männliche natürlich, unserer Stadt und der Region Peter Thommen zu danken, dass er keine Mühe scheut, in regelmässiger Folge sein Abendblatt herauszubringen. Dieser Dank ist auch dann echt und ehrlich, wenn man nicht mit allem, was da zu lesen ist, einverstanden ist.

Alles Gute, viel Fantasie und grossen Wagemut für die nächsten 50 Nummern! Basilio“

„Lieber Peter, zur 50. Ausgabe des Abendblattes wollen wir Dir herzlich gratulieren. In den drei Jahren regelmässigem Erscheinen ist Dein Blatt zu einer Institution im schwulen Basel geworden, die niemand mehr missen möchte.

Als Gruppe, die sich mit der Geschichte der Schwulen befasst, wissen wir auch, wie wichtig schriftliche Gegenwartszeugnisse sind, damit die Ereignisse und Ideen von heute nicht schon in wenigen Jahren für immer verloren sind…

In diesem Sinne wünschen wir Dir alles Gute und Deinem Abendblatt noch viele Jahre! Verein Ausstellungsprojekt Geschichte des Schwulen Basel“ (Abendblatt 1. März 1987)

(Dieser Verein schuf dann die grosse Ausstellung „Männergeschichten“ in der Kaserne)

Abend-Blatt hiess es, weil es immer am Wochenende Freitagabend verteilt worden ist. Ich hatte den Namen von einer „Läster-Schwester“ einfach übernommen…

36 Jahre später erschien dann die letzte – Thommens Senf und Pink Tube in gedruckter Ausgabe. Diese Wochenblätter haben immer versucht, den Puls der Szene zu fühlen und thematisch aktuell zu sein. Keine Zensur von Wörtern oder Themen! Schreiben wie uns der Schnabel gewachsen ist. (Das brachte mich auch oft in Konflikt mit gewissen Adressen, die das bekommen und lesen sollten. 😉

Die schwule Familie war 2003 schon lange auseinandergebrochen. „Leider ist für viele Schwule die Szene eine richtige Bedürfnisanstalt. Dringend wird sie gebraucht, schnell wieder verlassen – mit der Vorstellung, dass sie dann schon wieder benutzbar ist, wenn man sie halt doch wieder braucht.“

In elf Jahren habe ich 10 Jahrgänge Wochenblätter publiziert. Das ist ein „Sammelbuch“ von der Intimität einer Szene bis zu ihrer Bedeutungslosigkeit und totalen Anonymität. Trotz Internet braucht es auch Printmedien – vor allem solche, die Meinungen, Essays, Pamphlete (Streitschriften) und Gegeninformationen verbreiten!

„Schon seit AIDS war klar, dass es zum Ficken auch den Kopf braucht. Für Beziehungen und künftige Gefahren braucht es weiterhin Medien, wie in Schule und Beruf…“

„Wann wird wieder klar, dass schwules Leben – oder Leben unter Männern – kein Schicksal ist, sondern auch harte Kopfarbeit? Wann wird klar, dass der wöchentliche Porno zwar erleichtert, aber zum Zusammenleben nichts beiträgt – höchstens zum Alleinleben? Wann wird klar, dass die Schwulenehe ein ‚Versprechen auf Zeit‘ ist und keine Lebensversicherung?

Wann verschwinden ältere Männer nicht mehr in der Versenkung, weil sie sich durch die Normen einfach ausgrenzen lassen? Wann kann endlich eine kontinuierliche Weiterbildung für Schwule etabliert werden?

Schwule jagen sich mit 30 eben keine Kugel in den Kopf und über 50 gehen sie auch nicht auf eine Kreuzfahrt aufs Meer. Einst fingen sie an als Tunten und Schwestern, dann warfen sie die Röcke weg und zogen auf die Strasse. Dann war der Anzug und der Geschäftskoffer wichtig und später wurde der Schrank mit Leder und Toys nach und nach gefüllt. Die klassische „Schwulenlebenskarriere“. So mancher ist in einen Keller gestiegen, um die verblichene Schönheit mit Leder und SM aufzupolieren…

Bei den Fetischen fällt auf, dass ganz bestimmte Hierarchien darin ausgelebt werden – also ein Nachspielen heterosexueller Normen…

Auch die inneren Werte sind von Heteros abgekupfert: Treue, Doppelmoral und übertriebene Anforderungen an sich selbst und die Partner, Fassade nach aussen, Verstecken nach innen. Diese ganzen pirouettenhaften Verrenkungen in den Sexualbeziehungen habe ich schon mehrmals formuliert…

Es ist meistens nicht drin was drauf steht. Doch wo lernt man die Macken anderer verstehen? Wo lernen wir, beim Anblick eines „Gottes“ unser Selbstbild nicht aus den Augen zu verlieren? Woran erkennen wir, ob einer gefickt werden muss, oder gar das Ficken braucht? Wie verstehen wir, dass es Menschen mit stark physischen Bedürfnissen und wieder andere mit mehr psychischen Bedürfnissen gibt?

Was sind überhaupt unsere eigenen Bedürfnisse? Findet mann das wirklich nur heraus, indem mann alles rauf und runter ausprobiert? Eine ganze Akademie wäre nötig, um sich hier weiterzubilden. Aber die Schwulen spielen Schicksal und russisch Roulette. Wie früher der Adel und später das Bürgertum – die Kritiker sind einfach Klassenfeinde. Wie bringen wir unterschiedliche kulturelle und religiöse Vorstellungen in ein Verhältnis? Wie konvertiert ein heterosexuell Erzogener zu einem Schwulen? Wie kann mann sich von einer Partnerin zu einem Partner umgewöhnen? Kürzlich schrieb einer: Es scheint, dass die Männer in der Lebensmitte ihre Homosexualität entdecken. Tja, warum erst in der Lebensmitte? Wer vermag das solange zu verhindern?“ … (Peter Thommen in der letzten Ausgabe vom 24.10.2003)

P.S. Einen letzten Versuch unternahm ich mit dem „schwulen Gassenblatt“ von 2014 bis 2017 (dazu etwas im nächsten Jahr!) Seit 2014 ist mein „altes Projekt swissgay“ noch das letzte Publikationsorgan aus meinen Tasten. https://swissgay.info/?page_id=1334 (Inhaltsverzeichnis bis 2019) weitere PDFs findet Ihr auf swissgay.info (rechts oben!)

siehe auch  arcados.ch   und  mein newsletter  https://swissgay.info

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Tunten im Wandel…

In den 80er Jahren bin ich mit meinem damaligen Freund nach Spanien in die Ferien gefahren. Ich stellte fest, dass es da mehr Schwule gibt, die sich weiblich geben oder in Frauenkleidern rum laufen. Dabei fällt mir ein, dass es schon in den 70ern den sogenannten „Tuntenstreit“ gegeben hat.

Michi Rüegg* schrieb von den Zeiten, in denen Schwule die Tuntigkeit zu einem „Markenzeichen“ gemacht hatten. „Nun wissen Schwule instinktiv, dass sie Kämpfe nicht mit Fäusten gewinnen können, sondern mit Schlauheit. Der Schwule ist kein Wolf, er ist ein Fuchs.“

Es gibt aber auch Ausnahmen! „Man war tuntig und fand den Rest der Schar erfrischend.“ Bis heute wird uns erzählt, dass in jedem Mann etwas schlummere, das nach Freiheit drängt.

Wir müssen verstehen, dass Männer kulturell grundsätzlich lernen, „ihren Sex bei Frauen zu holen“! Ich denke, in Wahrheit ist es umgekehrt: Sie bringen ihren Sex zu den Frauen… 😉 Kürzlich schrieb einer in der nzz über Pornografie und merkte an, dass Männer durch diesen Konsum „ganz bei sich“ seien! Wie erhellend: Es geht dann um ihre eigene Sexualität und nicht darum, es einer zu besorgen!;)

Nun, eine Tunte war damals ‚ein Ereignis‘, das dem Heteromann im Spiegel zeigte, was er so hasste, nämlich die Frau im Mann. (Hassen ist eine Technik, ein ‚ungelöstes‘ Problem zu ‚bewirtschaften‘.) Später war die ‚Politik der gebrochenen Handgelenke‘ nicht mehr so aufrührerisch – aber sie bleibt bis heute eine Provokation.

Die Tunte ist aber auch eine Jahrhunderte alte Erscheinung, die jenseits politischer Vorstellungen ihre Existenz beansprucht! Aus ihr entstand die Figur des „dritten Geschlechts“. Ich erinnere an Quentin Crisp (1908-1999). In Kulturen in welchen Frauen nicht öffentlich auftreten durften mussten schon in frühen Zeiten Männer deren Rollen spielen.

Die ‚leibhaftige Tunte‘ kam als Bild in den 80er Jahren auch bei einigen Lesben in Basel nicht gut an. Sie verurteilten das Plakat der Homosexuellen Liste Basel von 1991 mit der Fotografie vom mageren Norbert Salcher (1956-2010) mit dickem Bauch in symbolischer „Erwartung“ (und hinter ihm sein Freund in anonymer Rückenansicht). Motto: „Wir werden das Kind schon schaukeln.“ (Wir machten 367 Stimmen)

Die Neunziger schwenkten um auf Männlichkeit in der Öffentlichkeit. Gewisse Schwule trugen Schnauz, Bart und Lederjacken. Auch AIDS trug zur Maskulinisierung bei: Schwul wollte gesund und kräftig aussehen, als Gegenbild zur Krankheit. Fitnessstudios sind bis heute beliebt. Gut, die krassen Formen sind in den „Fetischgruppen“ erhalten geblieben.

Kulturell ist es seit biblischen Zeiten so, dass Männerliebende zum Gegenbild der Frau greifen mussten, um einen MANN auf sich aufmerksam zu machen. (sh. NY Vogueing-Szene!) Wir unterlaufen also die heterosexuelle Hegemonie mittels Strategien aus der hetero!/a Kultur. Einige nehmen dieses Bild in hetero Köpfen an, um sich der Kultur zu beugen…

Michi Rüegg meinte, es wäre Zeit, sich von Tuntenhaftigkeit zu verabschieden. „Schliesslich wollten wir nicht als unmännlich gelten. Denn das könnte uns einen Sex kosten.“ *

Nun, in den heutigen Zeiten von „Nonbinarität“, Geschlechtsanpassungen und „Love is Love“ werden in Debatten Eindeutigkeiten verwischt. Ein neuer Versuch, sich irgendwie anzupassen – mit der Illusion, das hetero/a Diktat ‚zu unterlaufen‘. Kim de l’Horizon hat das literarisch auf die Spitze getrieben mit seinen Texten über Blutbuche und Grandmère. Ich wundere mich nicht über das Gefeiere in der heterosexuellen Literaturszene. Virginia Woolf ist mit ihrem Roman „Orlando“ schon 1928 auf solche Ideen gekommen.)

Die Schwulenbewegung hat sich der Figur für gesellschaftlichen Protest bedient. Die queer Bewegten eignen sich offenbar Figuren an, um „darin zu verschwinden“. Meine Lebenserfahrung hat mir ermöglicht, auch in binären Bezügen ein „Mann mit Variation“ zu werden und zu sein. Und das in vollständiger und befriedigender Übereinstimmung mit meinem „Fleisch“. Und bevor nun die „woken“ Queers aufschreien: Ja und diese Variation wird es auch weiterhin geben, auch wenn sie nicht mehr „allein den Ton angeben“ kann. Zumindest den gesellschaftlichen Diskurs können schwule Männer immer noch mitbestimmen – sie müssen sich einfach melden!

Peter Thommen_73, Schwulenaktivist Basel

* Cruiser vom September 2020, S. 13 über „toxische Tuntigkeit“.

Ist Homosexualität ein Nebenwiderspruch? in Thommens Senf vom 1. Feb. 2008

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Polit-Rückblick auf Zurich Pride und Zureich-CSD 2022

Ich konnte diese Veranstaltungen nicht besuchen und orientiere mich an Beiträgen aus dem HaZ-Q-ZH-Magazin 3’22.

Ich bin bis kurz vor 2019 einige Male an der Pride gewesen und weiss aus eigener Anschauung, was so „abgeht“. Es ist mir klar geworden, dass die ursprüngliche Polit-Demo zu einer öffentlichen Partyveranstaltung geworden ist mit kommerziellen Sponsoren im Hintergrund. Dies ist ohne Zweifel der wachsenden Erkenntnis geschuldet, dass Schwule eine interessante Konsumentengruppe sind. Auch Firmen und die Polizei wollen sich aus alten Diskriminierungsvorwürfen „befreien“ und tolerant auftreten.

Thomas Müller meint: „Allerdings ist fraglich, ob der Bezug der trans Community zur LGBTIQ+ Bewegung wirklich gegeben ist. Es ist zu diskutieren, ob die queere Bewegung durch Einbezug aller, irgendwie diskriminierten Gemeinschaften an Aussagekraft und Schlagkraft verlieren könnte.“ (1)

Über den CSD wird nur indirekt (Information durch andere Person) in dem Magazin berichtet. Die hp ist bei der Alternativen Liste ZH: „Der antikapitalistische CSD ist ein Kollektiv queere Aktivist*innen, um eine Alternative zu bieten. – Im Gegensatz zur bürgerlichen Assimilationspolitik der Zurich Pride setzen wir uns für eine komplette Emanzipation aller queeren Menschen ein… Dies bedeutet, dass wir alle systemischen Diskriminierungsformen intersektional bekämpfen müssen, damit alle queeren Menschen frei von Unterdrückung leben können.“ (hp AL)

„Der CSD hat es sich auf die Fahne geschrieben, die Normen, an die es sich zu assimilieren gelte, zu sprengen und eine echte Alternative zur ZuPr zu schaffen, die immer mehr queere Menschen als «Marketing-Veranstaltung» abschreckt… Der CSD hat sich mit den rund 1500 Teilnehmenden (Zahl gem. Veranstalter) viel stärker auf den Aspekt der politischen Demonstration konzentriert… Weniger bunt (in den Farben, nicht den Identitäten), weniger Musik, weniger gspassig.“ (Es wird geplant für 2023 einen „schöneren“ Anlass zu organisieren)

Ich habe den Eindruck, dass die Demo in Zürich auf „Antirassismus“ ausgerichtet wird, in Basel war es 2019 „Antifaschismus“. Der ursprüngliche Zweck wird hintangestellt, um „aktuell wichtigere“ Botschaften darüber zu legen und das findet nur mit Diskussion innerhalb einer queeren Gruppe statt.

Ich wehre mich dagegen, dass die Veranstaltungen von aktuellen politischen Gruppen (z.B. Klimastreik) „gekapert“ werden. Die Schwulenorganisationen haben ja früher auch nicht Demos von Gewerkschaften oder 1. Mai-Gruppen „übernommen“. Wir durften brav in den hinteren Reihen mitgehen…

Jene Gruppen sollen durchaus auch queere Mitglieder mitführen, die sich dort engagieren wollen. Ich habe aber noch keine Frauenorganisation oder Gewerkschaft gesehen, die sich je an einem CSD beteiligt hat. So sind die Klassenverhältnisse! 😉

Peter Thommen_72, Schwulenaktivist, Basel

1) Magazin S. 6  (Die Absicht ist aber, je mehr Buchstaben, desto mehr „Power“! P.Th.)

2) Magazin S. 7-10  (intersektional bedeutet, dass mehrfache Diskriminierung auch mehr politisches Gewicht bekommen soll. Z.B. Lesben diskr. als Frau UND als Lesbe, P.Th.)

Anmerkung: „Queer, pervers und arbeitsscheu! Wir bleiben unserem Motto treu!“ Das hiess ursprünglich „schwul, pervers… Ich finde, es kann nicht alles an alle neuen Zeiten einfach immer „angepasst“ werden. Es besteht in den heutigen Aktivist*enkreisen die Bemühung, alles Historische im Internet zusammenzusuchen, statt die kompetenten Bücher von Zeitzeug*en zu lesen. („The first pride was a riot!“) Es kann auch nicht jedes Detail aus den USA auf Europa oder gar die Schweiz übertragen werden. (Besonders was HIV betrifft)

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Warum es keinen „outing“ Tag gibt

Am 11. Oktober ist jeweils coming out Tag – seit dieser 1988 in den USA ausgerufen worden ist! Anfänglich klebte noch das „national“ dran. Doch das ist inzwischen überflüssig! Ab 1990 findet er auch in der Schweiz statt. Eingeführt worden vom ehemaligen Chefredaktor aK, Daniel Wiedmer. Das Logo zeichnete Keith Haring (1958-1990). Der Anlass soll daran erinnern, dass Menschen gegenüber einem grösseren Kreis für ihre Identität oder ihre Orientierung herauskommen. Das kann erst mal die Familie, oder es können die FreundeInnen sein. Bis zuletzt gibt es dann keine Einschränkungen mehr.

Doch vor diesem Tag gibt es einen längeren gedanklichen Ablauf. Dies drückt eben das Wort coming aus. In den letzten Jahren sind die Jungqueers etwas salopper geworden und neben den diversen Buchstaben wurde das „outing“ eingeführt. Dieses Wort ist die Bezeichnung für die unvermittelte Konfrontation mit „der Welt“ meist durch eine Person. Oft ist der innere Prozess, für Betroffene noch nicht „abgeschlossen“. Das coming out wird einem quasi „aus den Händen genommen“. Es wird beabsichtigt, jemann/frauden blosszustellen oder zu kränken. (Salopp wird mit unbekümmert zwanglos, die Nichtachtung gesellschaftlicher Formen ausdrückend“ beschrieben.)

Die Medien haben dieses „outing“ sehr gerne übernommen, sowohl die queeren als auch die „anderen“! Damit wird ein Bedeutungswandel vorgenommen, der dem ursprünglichen Anliegen und Begriff überhaupt nicht mehr gerecht wird.

Vergangenheit wird vergessen/ignoriert, wie ich das auch schon anderweitig in bezug auf „Stonewall“/Homokarteien/Telearena 78 festgestellt habe. Diese Geschichten also, vor dem historischen Ereignis (50 Jahre Schwulenbewegung), das gefeiert wird. Wie in Religionen wird „neu gedeutet“.

Bei so vielen Buchstaben und Lebensläufen verliert übrigens das schwule coming out seinen Platz in der Vielfalt von Biografie und alles findet „überall immer und sofort“ statt?

Peter Thommen_72, Schwulenaktivist, Basel

Die coming out – Phasen nach Cass
Der Ablauf VOR einem coming out

Über die „Aufmerksamkeits-Sucht“ bei Schwulen und Heteros! ;))

Wenn Wörter „plastifiziert“ werden, um sie besser gebrauchen zu können.
https://www.arcados.com/?p=3510

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50 Jahre „coming out“

Bei allen Erinnerungen und Gesprächen über das Jubiläum der „Homosexuellen Arbeitsgruppen“ in der Schweiz (später HACH, queer) geht vergessen, dass es auch ein „before Stonewall“ gegeben hat.

Um die Gründe für die Entstehung der Schwulenbewegung zu verstehen, muss mensch sich in jene Zeit der 60er und 70er Jahre versetzen. Ich habe das erste Buch von Alexander Ziegler (1944-1987), „Das Labyrinth“ (1970) nochmals gelesen und Zeitungsartikel über ihn. Der damalige Zeitgeist war erfüllt von technischem Fortschritt und dem langsamen Zerfallen von Traditionen. Die Bevölkerung wurde mobiler und die Städte erhielten Zuwanderung. Schwule haben sich „privat“ in Zirkeln oder an Stammtischen getroffen. Im öffentlichen Raum bewegten sie sich „anonym“ in dunklen Parks und öffentlichen Toiletten. Wie heute in der Anonymität des Internets brachte das Gefahren für Schwule. Die herkömmliche Organisation half mit juristischer und psychologischer Beratung. Vermehrt wurden sie Opfer von Raub und Hassverbrechen.

Kriminalkommissar Hans Witschi wies auf „5 Morde seit 1958 in Zürich“ hin (1965). Einige der vielen Mordfälle, die damals in der Presse bekannt geworden sind:

09. Juni 1957, Mord an Robert Oboussier – 26. Dez. 1957, Mord an Ernst Rusterholz – 03. Dez. 1961, Mord an Heinrich Gähler – 06./07. Juni 1963, Mord an Ernst Ebinger – 07./08. Sept. 1963, Mord an Peter Flügel – 09. Okt. 1967, Werner Seifert – 21. Sept. 1969, Jacobus   de Mul.

Weitere Fälle zogen sich in Basel vereinzelt noch bis Ende der 90er Jahre. Die Zeitungen brachten das „Homo-Milieu“ durch ihre Gerichtsberichte an die Öffentlichkeit. Mitten im Kalten Krieg veröffentliche das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement 1969 ein Taschenbuch für jeden Haushalt zur Anleitung in Zivilverteidigung. Darin war unter „Sabotage und Subversion“ zu lesen, dass ein Mann, der „widernatürliche Beziehungen“ pflege, vom Feind erpresst werden könne, Öl in ein Reservoir zu giessen.

Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt.“ So 1971 der Titel des Films von Rosa von Praunheim. Nach dessen Aufführung beschlossen Schwule, sich in Gruppen zu treffen und an die Öffentlichkeit zu gehen. In Basel zeigten sie sich am 1. Mai als neu politisierte Minderheit. Die Jugendunruhen zeigten sich auch in Zürich und die Polizei war in jenen Jahren im öffentlichen Raum so „beschäftigt“, dass sie ihrer „sittenpolizeilichen Aufgabe“ nicht mehr mittels regelmässiger Razzien im „Männermilieu“ nachkommen konnte.

StudentInnen an der Universität in Zürich organisierten in der Aula die Vortragsreihe „Sexualität und Gesellschaft“, die sich an ein allgemeines Publikum richtete. (11/1972 – 3/1973). Leute aus allen HA-Gruppen pilgerten an diese Vorträge. Das zog auch Interessierte für die Schwulenbewegung an. Diskussionen darüber fanden in den HAZ-infos ihren Niederschlag, wie auch Kritik an Bundesgerichtsentscheiden. (> Zentralbibliothek ZH)

Es zeigten sich Probleme auch innerhalb der Gruppen. Biedere wehrten sich gegen linke Bewegungen, Bürgerliche gegen ein Auftreten in der Öffentlichkeit. Frauen hatten andere Probleme und die „Unsichtbaren“ hielten sich immer am Rande auf. So dass Martin Fröhlich später während der Demos in Bern rief: „Ihr müsst auch mitlaufen, ihr gehört auch dazu!“

Das „zeitkritische“ Magazin „focus“ in Zürich publizierte in der Juli/August-Ausgabe 1973 ein Gespräch, das die Redaktion mit den Exponenten der Bewegung geführt hatte. Teilgenommen hatten Hanni von der Frauengruppe, Martin und Michael von den Männern, sowie Edi und Erwin von den traditionellen „Homophilen“. Diese hatten versucht, mittels Inseraten in den Tageszeitungen an neue Leute heranzukommen, diese wurde von den Verlagen jedoch abgelehnt. Die Leute von der HAZ fühlten sich hinwiederum von interessierten Presseleuten „verstanden“. Durch einen Leserbrief an „focus“ erhielt ich die Adresse der Basler Gruppe und fand so den Zugang zur Schwulenbewegung – in Basel.

Im Nachgang zur katholischen Synode 1972, welche „pastorale Richtlinien“ für die Begleitung „gleichgeschlechtlich Geneigter“ suchte, trat auch das reformierte Tagungszentrum Boldern (Männedorf/Helferei ZH) an die Öffentlichkeit, um gemeinsam mit „Betroffenen“ und den HA-Gruppen Vorurteile an Tagungen abzubauen. Sie fanden ab Januar 1974 jährlich wiederholt statt, die organiserten Lesben kamen 1977 dazu. Leider fanden sich „die Heterosexuellen als Gesprächsparter“ nur vereinzelt ein, wie später verlautete.

Die Leiterinnen, Marga Bührig und Else Kähler, traten 1978 dann auch in der Telearena des Schweizer Fernsehens auf. Darin wurden Szenen aus dem schwulen Leben gespielt, um anschliessend darüber mit den eingeladenen Gästen zu diskutieren. Das Konzept war gut gemeint, hielt aber der realen Kritik des schwulen und lesbischen Publikums nicht stand. Ein hetero Mann kritiserte, dass viel zuviele Betroffene anwesend seien, worauf ich ihm zurief: „Jetzt wissen sie mal wie es ist, in der Minderheit zu sein!“

Dieses Medienprojekt war insofern „revolutionär“, als es die Gespräche „über bedauernswerte Schwule“ beendete und die direkte Diskussion mit uns eröffnete. Es war das mediale coming out in der Schweiz. Die Wut der Schwulen und Lesben traf sich mit dem Schrecken der Heterosexuellen – genau umgekehrt wie es bisher in der vereinzelten Lebenssituation war. Es läuft eine Dynamik ab, die unterschiedlich lange dauern kann bis eine Person „aus dem Schrank“ tritt. Sie baut sich immer wieder zu neuen coming outs auf und diese sind gegenseitig mit der Gesellschaft.

Am 23. Juni 1979 fand in Bern die erste Demonstration statt, mit der wir (Deutschweizer) mit dem Anspruch einer landesweiten Repräsentation auftraten: „Bärn het Schwuli gärn – Gegen Zwangsheterosexualität“ waren die Parolen. Es gab aber auch Gruppen in der Romandie und eine im Tessin. Jährlich wiederholten sich diese coming out‘s auf lokaler oder nationaler Ebene. In den Städten sammelten wir damals Unterschriften für die Abschaffung der „Homoregister“, die angeblich zu unserem Schutz eingerichtet worden seien – sie wurden dann abgeschafft.

International wurde der Wunsch nach gesicherten gleichgeschlechtlichen Beziehungen formuliert und politisch eingebracht. In der Schweiz führte das 2005 zur Abstimmung über die Eingetragene Partnerschaft, die am 1. Januar 2007 eingeführt worden ist. Die PolitikerInnen und Stimmberechtigten hatten ihr coming out. Dies ist uns nicht in den Schoss gefallen, sondern die Folge enormer politischer Arbeit, die frühere Generationen gescheut hatten. Allmählich veränderte sich bürgerliches Denken und linke Aktivisten waren zunehmend hilflos gegenüber biederen Forderungen aus den Gruppen.

Der nächste Schritt ist die Öffnung der heterosexuellen Ehe „für alle“. Die Abstimmung wurde am 26.09.2021 gewonnen, tritt am 1. Juli 2022 in Kraft und ist das aktuellste coming out unserer Gesellschaft. Schon 1970 begann Alexander Ziegler seinen Roman mit dem Traum einer Ehe – zwischen einem Staatsanwalt und dem Angeklagten

Die Homosexuellen Arbeitsgruppen hatten die Gleichwertigkeit ihrer Sexualität verkündet – gekommen ist die „Ehe für alle“. Zu welchem Schutz ist das neue Eheregister nun wirklich? Solange es Menschen gibt, die glauben, sich „in die Mehrheit“ flüchten zu müssen, wird es andere Menschen geben, die ihr coming out haben.

Peter Thommen_72, Schwulenaktivist Basel  (Der Text erschien – etwas kürzer – auch im Cruiser-Magazin vom Juni 2022, S. 25-26)

Podiumsdiskussion (1 h ) zu 50 Jahren HA-Gruppen, moderiert von T. Urech, aufgenommen und präsentiert von gayradio, April 22

Vor 50 Jahren machten HA-Gruppen ihre ersten Schritte, zB die HABS

„Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt.“ Dieser Film von Rosa von Praunheim (1971) wurde am 25.06.2015 im SchwuZ Berlin diskutiert. (1 h)  Patsy l’Amour laLove moderierte das Podium mit Martin Dannecker, Peter Hedenström und Detlef Stoffel zum emanzipatorischen Aspekt des Films: Sowohl was seinen Inhalt angeht, als auch seine Wirkung. Ist er bloß Provokation und schoss er über sein Ziel hinaus? Wie erlebten die unpolitischen Schwulen der Zeit den Film? Was hat sich in den vergangenen Jahren in der schwulen Subkultur verändert?

Haben Staaten auch ein coming out? (Buchbesprechung/Diskussion)

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Der Staat hatte sein coming out!

„Der 11. Oktober 1987 bleibt in der amerikanischen Gay Community unvergessen: Mehr als 600’000 Lesben und Schwule versammelten sich in den Strassen von Washington, um zusammen für ihre Rechte einzustehen. Dann treten Schwule und Lesben immer wieder an die Öffentlichkeit, um mit ihrer Präsenz für einen Tag lang das Geheimnis schwul-lesbischen Lebens zu lüften. Oder sie entschliessen sich zu einem Coming out in ihrer näheren Umgebung.

200 Delegierte von schwulen und lesbischen Organisationen erklären den 11. Oktober zum ersten Schweizer Coming out-Tag. Sie wollen damit eine Möglichkeit schaffen, selber aktiv zu sein und ein freundliches, positives Bild der Gay Community zu zeigen.“   (nach Roland Grüter, Cruiser 10/91, S. 11 – kleine Premiere)

In die Schweiz geholt hatte diese Veranstaltung Daniel Wiedmer vom «anderschume/Kontiki», samt Logo (von Keith _Haring): Eine offene Tür mit herauskommendem Mensch. Die Jugendgruppen engagierten sich stark an diesem Tag und gingen mit Aktionen auf Strassen und Plätze, um den Dialog mit Passanten zu suchen, oder gar „InteressentINNen“.

Einige Jahre später drehte ich den Spiess um und schrieb in meinem Blatt, dass eigentlich die Hetero/as ihr coming out machen sollten gegenüber uns! Wann haben sie sich schon mal als offen für Minderheiten erklärt? Ich finde sowieso, dass nicht wir unser coming out machen müssten, sondern unsere Eltern, Verwandten und Bekannten.

Am 26.09.2021 fand die Abstimmung über die „Ehe für alle“ statt. Damit hatten das Parlament und die Stimmberechtigten mit 64,1 % Ja-Stimmen und auch der Mehrheit als Kantone ihr coming out.

Peter Thommen_71, Schwulenaktivist Basel

Schwule wollten schon immer heiraten! Schon vor hundert Jahren!

Siehe auch den Blog http://swissgay.info/ !

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Zivilstand und queere Biologie

Im Oktober 2016 hat der damalige „L.J. (30)“ erklärt, die Öffnung der Ehe würde kein coming out mehr erfordern, man sei einfach „verheiratet“ Punkt. Nach Einführung der eing. Partnerschaft beschwerten sich Frauen über den neuen Zivilstand auf der Steuererklärung. Dies sei ein „Zwangsouting“…

Heute höre ich im Tagesgespräch SRF wieder von einer Frau, dass die „Ehe für alle“ ein Grund sei, um dem „outing“ des sexuellen Begehrens in der eP zu entgehen. Als ‚alter schwuler Hase‘ ist mir nicht entgangen, dass vor allem frauenliebende Frauen immer von der Liebe reden, die „nur zählen“ würde…

Von der queer-community hören wir fast täglich, dass die ganze „Binarität unwesentlich“ sei – und gleichzeitig wird neuestens vorgegeben, Biologie in Wortergänzungen wie „cis“ wieder angeben zu sollen.

Es wird aber übersehen, dass alle Heterosexuellen seit Jahrhunderten mit dem Zivilstand „verheiratet“ ein coming out für ihr gesetzeskonformes Sexualleben machen. Das werden nun einfach „alle“ haben. Vielleicht redet dann keineR mehr von Zwang?!

Ich habe viele – vor allem Frauen – im Verdacht, sich hinter einer hetera Fassade verstecken zu wollen. Formulare und Verträge müssen mit Vor- und Nachnamen ihrer PartnerInnen ausgefüllt werden. Ein „Zwangsouting“?

Im gesellschaftlichen Leben wird es zwangläufig zum coming out kommen. An Partys und Anlässen wird doch der andere Teil der Beziehung mitgenommen und gegebenenfalls vorgestellt? Die weibliche Front gegen das „outing“ empfinde ich als politisch untauglich und als Kniefall vor eigenen Wunschvorstellungen!

Die Politik der Schwulenbewegung war anders: Mann erwarb sich die Fähigkeit, zu seinem homosexuellen Verlangen zu stehen und es notfalls auch zu verteidigen. Gut, es gab und gibt immer Solche, die sich hinter Fassaden versteck(t)en. „Mutter Fröhlich“ forderte in Bern an Demos jeweils „Zuschauer am Rande und auf dem Troittoir“ auf, mitzukommen, denn „sie gehörten ja auch dazu“.

Frauenliebende Frauen bevölkerten nicht den öffentlichen Raum, wie Schwule die auf Männer aus sind. Sie wurden nicht von der Polizei kontrolliert und in „Homo-Registern“ erfasst. Sie werden auch – aber anders diskriminiert.

Der Park und die Toiletten sind nicht die Szene von frauenliebenden Frauen. Sie bleiben privat und durchstreifen nicht den öffentlichen Raum. Das mag bei queeren Partys und vor deren Lokalen anders geworden sein. Aber ich kann mich auch an eine Szene in einem Roman von Sarah Schulman (*1958) erinnern, worin sie Sex auf einer Frauentoilette schildert – in den USA.*

Die Ehe ist für TraditionalistINNen die Methode, Ordnung in die Gesellschaft zu bringen. Alle unter die Haube/das Kopftuch (den Schleier der Hochzeit) – und Ruhe ist! Nicht die Liebe zählte! Diese ist erst eine „Errungenschaft der Neuzeit.“

Die ursprüngliche Bezeichnung GLBTI ist nach und nach bis heute durch Buchstaben in einer anderen Reihenfolge ersetzt worden, schliesslich wurden alle in den Ausdruck „queer“ gepackt. Nun erscheint seit kurzem das Geschlecht wieder: „queer-feministisch“. Sorry Frauen, aber ich bin nun mal queer-schwulistisch! 😉

Peter Thommen_71, Schwulenaktivist, Basel

* übrigens: Rita Mae Brown schildert 1975 ihre Eindrücke, die sie undercover in einer US-Gaysauna hatte. (Schwule sich emanzipieren lernen, VrWinkel 1976, S. 69: Frauen und Schwule, siehe PDF auf arcados.ch > schwule Bücher vergriffen > Titel!)

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siehe auch unter swissgay.info !

Alle Ausgaben in PDF und Papier

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Einspruch: Plastikwörter* in der Queer-Kultur

Ich verstehe als „Plastikwort“ in diesem Zusammenhang eine dehnbare Form, in die hinein alles gelegt werden kann, was ‚von Wichtigkeit‘ ist. Darüberhinaus können nun auch weitere ‚Ergänzungen‘ angehängt werden.

Es ist bemerkenswert, dass nach der ‚Buchstabengemeinschaft‘, die in queer mehr und mehr enthalten war, plötzlich der Queer-Feminismus auftaucht! Die Buchstaben (in der Klammer von Queer) erfordern offenbar weitere, «wieder sichtbare» Ergänzungen!? 😉

Ich verstehe auch „outing“ und „homophob“ als quasi-Plastikwörter.

Mir ist aufgefallen, dass sie nicht nur „praktischer“/lieber verwendet werden. Sie lassen auch erkennen, dass die Sichtweise aufs coming out und auf Schwulenfeindlichkeit / Antihomosexualität langsam mit dem kürzeren Wort auf die „hetero/a Seite“ gewechselt hat.

Das coming out ist eine erst innerpsychische Leistung, die dann noch nach aussen, in die Gesellschaft mitgeteilt werden kann. Für die ist das dann – platsch – ein outing! Die bisher darin ausgedrückte zeit- und mühevolle Biografie wird aufgegeben und der kurzzeitigen Sicht auf der Seite der Gesellschaft Platz gegeben.

Homophobie ist ein Zustand/eine Situation, die nur in den wenigsten Fällen einer Konfrontation – für Heterosexuelle auftritt. Das Wort ist aber zum Verwenden in Diskursen praktisch. Alles sei letztlich ‚homophob‘. Auch hier passt sich die Kommunikation auf eine ‚Angst vor Homosexualität‘ an, die historisch immer vor Gericht als Ausrede für gewalttätiges antischwules Handeln vorgebracht wurde.

Bei der Gelegenheit muss ich anmerken, dass das griechische Wort Phobos auch „erschauern“ heissen kann, wie ich bei einer Recherche gesehen habe. 😉

Peter Thommen_71, Schwulenaktivist Basel

Siehe auch: Martin Dannecker: Der „gewöhnliche Homosexuelle“ an der Schwelle zum neuen Jahrtausend.  In: Bibliothek rosa Winkel Band 25: Die Geschichte der Homosexualitäten… Zum 175. Geburtstag von K.H. Ulrichs, VrW 2000, S. 176-195

* Der Begriff geht auf Uwe Pörksen: Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur. Stuttgart 1988 zurück. Bei ihm begann es mit Wörtern, die dem technisch-wissenschaftlichen Bereich entnommen werden. Freud verwendet auch solche Ausdrücke, wie „verlöten“.

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Schwul – neu definiert?

Warum soll ich mich als „queer, binär, weiss und cis“ bezeichnen? – Aber ich bin doch schwul und will das immer bleiben!*

Ich soll auch vor einer Diskussion mein „Pronomen“ angeben. Bevor ich meinen Mund auftue soll ich mich gegen alle Seiten „definieren“ und erklären: Als „antifaschistisch, antirassistisch und queerfeministisch“…

Ich gestehe jeder Person zu, sich selber zu „definieren“ und ihr „Pronomen zu wählen“. Also fordere ich alle Anderen auf, auch meine langjährige Schmalspurbezeichnung „schwul“ zu akzeptieren. Mit dem Wort queer habe ich mich auseinandergesetzt, es wird aufgefüllt mit Begriffen und Diversitäten wie früher die Wörter „Sodomie oder Ketzerei“. Gemäss W. Müller in der Siegessäule vom Oktober 2020 ist das Wort SCHWUL 1847 erstmals dokumentiert. Es bedeutete „Gauner mit einer Vorliebe für gewisse Unsittlichkeiten“. Passt doch!

Ein „Queerfeminismus“ grenzt sich neustens ab und geht eigene gedankliche Wege. Da bin ich nicht mehr enthalten. Soll ich nun einen „Queerschwulismus“ entwickeln? Es gibt bis heute noch unerforschte Gründe, warum die Frauenbewegung nie mit der Schwulenbewegung diskutiert hat.(1)

Ich lehne Faschismus begründet ab und konnte mit den „alten Griechen“, auf die jeweils Bezug genommen wurde, nie etwas anfangen. Die älteste Geschichte der Männerliebe verliert sich in heterosexuellen (binären) hierarchischen Zusammenhängen. Aber es gibt auch Männer und Schwule, die ihre Sexualität und ihre Emotionen im hierarchischen Muster leben und das sogar fetischisieren. Ob das k/einen Einfluss auf deren politische Einstellung hat, ist auch noch unerforscht.

Rassismus beginnt dort, wo Haut- und Haarfarben und „anderes Fremdes“ problematisiert und mit diesem Wort bezeichnet werden. Dies findet auch ausserhalb von „Weiss-Sein“ und innerhalb von Intersektionalität (2) statt. Sogar innerhalb von Gruppen und dazwischen gegenseitig! Sexualneid/Sexismus ist da oft zu finden – wie gegenüber Schwulen! Es sind keine Einbahnstrassen.

Wir sollten vorsichtig mit neuen Bezeichnungen und Begriffen sein (3) und wir sollten den alten historisch gedenken und sie nicht tot schweigen! („Eine Person zu einem Neger machen“, was bis heute überall vor kommt.) Schwule sollten auch dafür sorgen, dass ihre Selbstbezeichnung nicht die Bedeutung ändert. („sowas ist ja voll schwul“!)

LGBTIQ* Diese Anhäufung von Buchstaben erinnert mich an die Zeiten vor über hundert Jahren, als fremde Leute „vermessen“ (4) wurden und ihre Schädel und ihre Körper mit Zahlen beschrieben. KeineR hatte sie gefragt, wie sie sich fühlten. So, wie Sexisten auch nicht fragen, sondern einfach „mal zugreifen“…

Nicht nur Sexualität, Liebe und Arbeit verändern sich ständig und schneller. Auch Orientierungen, Identitäten, Fetische und Geschlechtsteile werden unterschiedlich benützt und eingesetzt. Nach dem Motto, ich betätige heute das, was ich gerade brauche – und morgen ist alles wieder anders… (Thommen, 2014)

Peter Thommen_70, Schwulenaktivist Basel

* Titel eines Buches von Michael Bochow über schwule Männer im dritten Lebensalter, Ed. Waldschlösschen, MSK-Verlag 2005, 370 S.

1) Beate Schappach beschreibt in einem Text, dass sich die neue Bewegung der gleichgeschlechtlich Liebenden bald in frauenliebende und männerliebende Gruppen und Diskussionen geteilt hat. („An Hand einzelner Gruppierungen wie der Homosexuellen Aktion Westberlin, die als Schwulen- und Lesbenorganisation gegründet worden war, sich jedoch schnell in die HAW und das LAZ (LesbenAktionsZentrum) aufsplittete, der Frauen-organisation Brot und Rosen und der Roten Zelle Schwul (ROTZSCHWUL) soll der Aushandlungsprozess innerhalb der Gruppierungen sowie das Verhandeln von Gruppenidentität und -inszenierung nach innen und außen nachgezeichnet werden.)

2) Bei „Wokeness“ geht es um Achtsamkeit gegenüber sozialer Ungerechtigkeit, dabei gilt: ‚je mehr Privilegien, desto weniger Recht mitzureden; je weniger Privilegien, desto mehr Recht.‘ Die Wokeness für Fortgeschrittene, die Intersektionalitäts-Theorie, ist noch etwas weniger lang diskursprägend. Sie handelt von Mehrfachdiskriminierung, transsexuelle Frauen aus dem Sudan und so. Ihretwegen wird es nun auch für weisse, heterosexuelle Frauen enger: Denn nur wer genug Opferpunkte sammelt, bleibt im Spiel. Dass man da nehmen muss, was man kann, braucht man einem weissen heterosexuellen Mann nicht zu sagen. (Christoph Zürcher im NZZaS-Magazin Nr. 42 /Okt.20)

3) „Statt um soziale Ungleichheit, Armutslöhne und niedrige Renten drehen sich linke Dabatten heute oft um Sprachsensibilitäten, Gendersternchen und Lifestyle-Fragen.“ (Sarah Wagenknecht im Interview mit der SoZ vom 25.10.2020, S. 14)

4) Das Wort hat auch noch eine andere Bedeutung (wie z.B. Schwindel): sich zu sehr auf die eigenen Kräfte oder auf das Glück verlassend“

Siehe auch meinen Beitrag über Edmund White’s Roman „A Boys own Story“ von 2017

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